Direktanspruch gegen ausländischen Versicherer – Wohnortgericht zuständig

LG Bonn, Urt. v. 21.09.2011, 5 S 140/11

Der Geschädigte kann einen nach dem anwendbaren nationalen Recht bestehenden Direktanspruch gegen den im Ausland sitzenden Haftpflichtversicherer auch am Gericht seines Wohnsitzes klageweise geltend machen. Die dafür erforderliche einheitliche Auslegung von EuGVVO und Luganer Übereinkommen von 2007 entspricht dem ausdrücklichen Willen der vertragsschließenden Parteien.

Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts ist die Klage zulässig, insbesondere die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben.

1. Zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit sind vorliegend die Vorschriften des Luganer Übereinkommens vom 30.09.2007 (LugÜ 2007) heranzuziehen. Zwar ist dieses Übereinkommen für die T erst am 01.01.2011 in Kraft getreten, nachdem es für die EU-Staaten bereits am 01.01.2010 in Kraft getreten ist, maßgeblich für die Anwendung ist nach Art. 63 Abs. 1 LugÜ 2007 jedoch das Inkrafttreten in Deutschland als Ursprungsstaat im Sinne der Vorschrift (vgl. auch BGH, Urt. v. 31.05.2011, VI ZR 154/10, WM 2011, 1324 ff. = juris Rn. 16, für eine Klage gegen zwei Ter Gesellschaften: „Das LugÜ 2007 ist im Streitfall noch nicht anwendbar, da die Klage erhoben wurde, bevor dieses Übereinkommen am 01.01.2010für die Europäische Gemeinschaft in Kraft trat.“). Die maßgeblichen Vorschriften des LugÜ 2007 lauten:

Artikel 9 LugÜ 2007

(1) Ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates hat, kann verklagt werden:

a) vor den Gerichten des Staates, in dem er seinen Wohnsitz hat,

b) in einem anderen durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat bei Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten vor dem Gericht des Ortes, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat, oder

c)

(2)

Artikel 11 LugÜ 2007

(1) Bei der Haftpflichtversicherung kann der Versicherer auch vor das Gericht, bei dem die Klage des Geschädigten gegen den Versicherten anhängig ist, geladen werden, sofern dies nach dem Recht des angerufenen Gerichts zulässig ist.

(2) Auf eine Klage, die der Geschädigte unmittelbar gegen den Versicherer erhebt, sind die Artikel 8, 9 und 10 anzuwenden, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist.

(3)

Inhaltsgleich bestimmen die Art. 9 bis 11 EuGVVO für die EU-Staaten:

Artikel 9 EuGVVO

(1) Ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden:

a) vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat,

b) in einem anderen Mitgliedstaat bei Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten vor dem Gericht des Ortes, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat, oder

c)

(2)

Artikel 11 EuGVVO

(1) Bei der Haftpflichtversicherung kann der Versicherer auch vor das Gericht, bei dem die Klage des Geschädigten gegen den Versicherten anhängig ist, geladen werden, sofern dies nach dem Recht des angerufenen Gerichts zulässig ist.

(2) Auf eine Klage, die der Geschädigte unmittelbar gegen den Versicherer erhebt, sind die Artikel 8, 9 und 10 anzuwenden, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist.

(3)

2. Die oben aufgeführten Vorschriften der EuGVVO sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urt. v. 13.12.2007, C-463/09 -FBTO/Jack Odenbreit-, NJW 2008, 819 ff.), der sich der Bundesgerichtshof angeschlossen hat (BGH, Urt. v. 06.05.2008, VI ZR 200/05, NJW 2008, 2343 f. = juris Rn. 13), dahingehend auszulegen, dass der Geschädigte einen nach dem anwendbaren nationalen Recht bestehenden Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer auch am Gericht seines Wohnsitzes klageweise geltend machen kann.

Der Europäische Gerichtshof hat zur Begründung dieser Auslegung ausgeführt, es sei nicht festzustellen, dass sich Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO darauf beschränke, die Zuständigkeit den Gerichten des Wohnsitzes der darin aufgezählten Personen zuzuweisen, sondern vielmehr eineRegel der Zuständigkeit am Wohnsitz des Klägersaufstelle (EuGH, a. a. O., Tz. 25). Eine Auslegung der Verweisung in Art. 11 Abs. 2 EuGVVO auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO dahingehend, dass diese es dem Geschädigten nur erlaube, vor den Gerichten des Wohnsitzes der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO aufgezählten Personen zu klagen, laufe dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 EuGVVO unmittelbar zuwider (EuGH, a. a. O., Tz. 26). Mit der Verweisung werde vielmehr der Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO auf andere Kategorien von Klägern als den darin genannten, nämlich auf die Geschädigten erstreckt (EuGH, a. a. O., Tz. 26). Diese Erwägungen würden auch durch eine teleologische Auslegung der betroffenen Vorschriften gestützt; die EuGVVO solle einen besseren Schutz der schwächeren Partei ermöglichen (EuGH, a. a. O., Tz. 28). Die Auslegung werde durch den Wortlaut der Richtlinie 2000/26/EG über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung in ihrer nach dem Inkrafttreten der EuGVVO geänderten Fassung bestätigt; in den dortigen Erwägungsgründen habe der Gemeinschaftsgesetzgeber ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Direktklage des Geschädigten an seinem Wohnsitz nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b, Art. 11 Abs. 2 EuGVVO hingewiesen (EuGH, a. a. O., Tz. 29).

3. Die oben dargestellte Auslegung der Art. 9 und 11 EuGVVO ist entgegen der Auffassung des Amtsgerichts auf Art. 9 und 11 LugÜ 2007 zu übertragen, so dass die Klägerin befugt ist, die Beklagte als Haftpflichtversicherer am Gericht ihres Wohnsitzes in Anspruch zu nehmen.

a) Ausschlaggebend hierfür ist zunächst, dass eine einheitliche Auslegung von EuGVVO und LugÜ 2007 dem ausdrücklichen Willen der vertragsschließenden Parteien entspricht. Schon in den Erwägungsgründen zum LugÜ 2007 wird ausdrücklich auf die EuGVVO (= Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000) Bezug genommen und der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass die Ausdehnung der Grundsätze der EuGVVO auf die Vertragsparteien des LugÜ 2007 deren rechtliche und wirtschaftliche Zusammenarbeit verstärken wird. In den Erwägungsgründen zum Protokoll 2 über die einheitliche Auslegung des LugÜ 2007 wird sodann auf das Bestreben verwiesen, „bei voller Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte voneinander abweichende Auslegungen zu vermeiden und zu einer möglichst einheitlichen Auslegung der Bestimmungen dieses Übereinkommens und der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 44/2001[…] zu gelangen“.

Schließlich heißt es in Art. 1 Abs. 1 des Protokolls 2:

„Jedes Gericht, das dieses Übereinkommen anwendet und auslegt, trägt den Grundsätzen gebührend Rechnung, die in maßgeblichen Entscheidungen von Gerichten der durch dieses Übereinkommen gebundenen Staaten sowie in Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu den Bestimmungen dieses Übereinkommens oderzu ähnlichen Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens von 1988 und der in Artikel 64 Absatz 1 dieses Übereinkommens genannten Rechtsinstrumente entwickelt worden sind.“

Da in Art. 64 Abs. 1 LugÜ 2007 u. a. die EuGVVO genannt ist, sind die innerstaatlichen Gerichte durch Art. 1 Abs. 1 des Protokolls 2 aufgefordert, bei der Anwendung des LugÜ 2007 den zu ähnlichen Bestimmungen der EuGVVO ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Rechnung zu tragen. Ziel ist hierbei gemäß den Erwägungsgründen zum Protokoll 2 eine möglichst einheitliche Auslegung des LugÜ 2007 und der EuGVVO.

b) Bei Übertragung der oben dargestellten Auslegung der Art. 9, 11 EuGVVO auf die inhaltsgleichen Vorschriften der Art. 9, 11 LugÜ 2007 gelangt man zu dem Ergebnis, dass die Verweisung in Art. 11 Abs. 2 LugÜ 2007 den in Art. 9 Abs. 1 Buchst. b LugÜ 2007 begründeten Gerichtsstand am Wohnsitz des Klägers bei Klagen gegen Haftpflichtversicherer über die in letzterer Vorschrift genannten Personen (Versicherungsnehmer, Versicherter, Begünstigter) hinaus auf den Geschädigten ausdehnt. Die hierfür von Art. 11 Abs. 2 LugÜ 2007 aufgestellte Voraussetzung, dass das anwendbare nationale Recht einen Direktanspruch des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer vorsieht, ist erfüllt. Das nach Art. 40 Abs. 1 und 4 EGBGB anwendbare Tische Recht sieht in Art. 65 Abs. 1 SVG (Straßenverkehrsgesetz) einen solchen Direktanspruch vor.

c) Die gegen eine Übertragung der durch den Europäischen Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der Art. 9, 11 EuGVVO auf die entsprechenden Vorschriften des LugÜ 2007 vorgebrachten Einwände der Beklagten gehen fehl:

(1) Zum einen lässt sich diese Auslegung ebenso wie aus dem Wortlaut der EuGVVO bereits unmittelbar aus dem Wortlaut des LugÜ 2007 ableiten. Anders als noch das LugÜ 1988, welches in Art. 8 Abs. 1 Nr. 2 einen Gerichtsstand am Wohnsitz des Versicherungsnehmers begründet hatte, begründet Art. 9 Abs. 1 Buchst. b LugÜ 2007 nämlich in erster Linie einen Gerichtsstand am Wohnsitz des Klägers. Wird diese Vorschrift in Art. 11 Abs. 2 LugÜ 2007 für Klagen des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer für anwendbar erklärt, so folgt hieraus, dass auch der Geschädigte nach Art. 9 Abs. 1 Buchst b LugÜ 2007 am Gericht seines Wohnsitzes klagen kann.

(2) Zum anderen ist die Auffassung der Beklagten, die vom Europäischen Gerichtshof vorgenommene Auslegung der Art. 9 und 11 EuGVVO beruhe allein auf gemeinschaftsrechtlichen Erwägungen, unzutreffend. Aus den Entscheidungsgründen des maßgeblichen Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, a. a. O.) ergibt sich nämlich, dass sich der Europäische Gerichtshof in erster Linie auf den Wortlaut der Vorschriften der EuGVVO stützt. Der Wortlaut der entsprechenden Vorschriften des LugÜ 2007 ist aber identisch. Erst in zweiter Linie wird das gefundene Auslegungsergebnis mit teleologischen Aspekten unterfüttert. Dass diese nicht im Vordergrund stehen, zeigt sich schon an der sprachlichen Fassung der Tz. 28 und 29 des Urteils des Europäischen Gerichtshofs („diese Erwägungen werden gestützt“, „diese Auslegung wird bestätigt“). Ohnehin stellt der Europäische Gerichtshof in teleologischer Hinsicht zunächst auf die Erwägungsgründe zur EuGVVO ab, die über die oben dargestellten Erwägungsgründe zum LugÜ 2007 auf dieses übertragbar sind. Erst in letzter Hinsicht bezieht sich der Europäische Gerichtshof in einem vergleichsweise kurzen Abschnitt der Urteilsgründe (Tz. 29) auf die Kfz-Haftpflichtversicherungs-Richtlinie und damit auf reines Gemeinschaftsrecht.

(3) Auch aus der Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 07.09.2007, 14 W 31/07, NJW-RR 2008, 373 f. = juris Rn. 5) vermag die Beklagte nichts für sich herzuleiten. Die Entscheidung, die zwar eine Direktklage des in Deutschland ansässigen Geschädigten gegen den Tischen Haftpflichtversicherer vor deutschen Gerichten mit der Begründung ablehnt, die Auslegung der Art. 9, 11 EuGVVO sei auf das LugÜ nicht übertragbar, ist zum früheren LugÜ 1988 ergangen, welches einen anderen Regelungsgehalt hatte als das LugÜ 2007 (vgl. oben), und bezieht sich ausdrücklich auf den Zeitraum „bis zu einer Revision des LugÜ“. Eine solche ist mit dem LugÜ 2007 nunmehr vorgenommen worden.

(4) Die hier vorgenommene Auslegung der Art. 9 und 11 LugÜ 2007 widerspricht schließlich auch nicht der von der Beklagten zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 31.05.2011 (BGH, Urt. v. 31.05.2011, VI ZR 154/10, WM 2011, 1324 ff. = juris Rn. 17). Darin heißt es, dass das LugÜ 1988 autonom, d. h. ohne Rückgriff auf die lex fori oder die lex causae, auszulegen ist und dass hierbei die Systematik und die Zielsetzung des Übereinkommens zu berücksichtigen sind. Diesen Grundsätzen entspricht die hier vorgenommene Auslegung. Weder wird für die Auslegung auf deutsches Recht (lex fori) oder Tisches Recht (lex causae) zurückgegriffen noch werden die Systematik und die Zielsetzung des LugÜ 2007 missachtet. Zur Begründung kann auf die obigen Ausführungen zum Wortlaut der Art. 9 und 11 LugÜ 2007 und zum Protokoll 2 über die Auslegung des Übereinkommens verwiesen werden.

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