Artikel im Westfälischen Volksblatt vom 09.11.2010
Von Hubertus Hartmann
„Paderborn (WV). Hand oder Arm: Bei der juristischen Feststellung, welches Gliedmaß durch einen Unfall in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt ist, kann es um viel Geld gehen. Ein heimischer Anwalt hat mit Hilfe medizinischer Gutachten einer Patientin zu Ausgleichszahlungen von mehr als einer halben Million Euro verholfen. Ina O. aus Paderborn hatte bei der Aachen-Münchener schon vor Jahren eine Unfallversicherung abgeschlossen. Es passierte beim Radfahren im Urlaub an der Nordsee. Mit dem Vorderrad geriet die 58-Jährige in eine Bodenrille und fiel auf den Arm. Bei dem Sturz erlitt sie eine Radiusköpfchenfraktur am linken Ellenbogen sowie Bänderrisse und einen massiven Bluterguss im linken Handgelenk. Die Verletzung hatte weitreichende Folgen: Das Handgelenk musste operativ versteift werden, sechs Schrauben haben es unbeweglich gemacht. Ina O. meldet den Unfall ihrer privaten Unfallversicherung. Diese holte zwei Gutachten des Paderborner St.-Vincenz-Hospitals ein. In dem zweiten Gutachten heißt es, das Handgelenk sei »in zehn Grad Überstreckstellung mit einer diskreten Ellenwärtsneigung von fünf Grad eingesteift«. Zudem sei die Unterarmdrehung schmerzhaft stark eingeschränkt. Die Hand könne nur noch als »Beihand« angesehen werden. Der Unfall, so die Gutachter, führe »zu einer dauernden Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit von Gliedmaßen «. Daraufhin zahlt die Versicherung der Paderbornerin 80 273 Euro. Was ihr jedoch seltsam vorkam. Denn die Aachen-Münchener rechnet nach der so genannten Gliedertaxe nicht nach dem Wert »Hand im Handgelenk« ab, sondern nach dem Wert »Arm«, obwohl offensichtlich das Handgelenk versteift, der Arm als Ganzes jedoch nicht betroffen ist.
Ina O. schaltete deshalb die Kanzlei Melzer und Penteridis in Bad Lippspringe ein. »Die Versicherung war der Ansicht, dass hier prozentual der Armwert zugrunde zu legen sei, weil unsere Mandantin ja noch ihre Finger bewegen könne. Deshalb sei die Hand nicht vollständig funktionsunfähig, sondern der ganze Arm zu 60 Prozent«, erläutert Rechtsanwalt Nikolaos Penteridis. »Die Versicherung hat dabei ein eindeutiges Urteil des Bundesgerichtshofes ignoriert«, so der Fachanwalt für Versicherungs- und Medizinrecht.
Der BGH habe nämlich bereits 2003 entschieden, dass bei Versteifungen des Handgelenks auf den Handwert in voller Höhe abzustellen ist, unabhängig davon, ob die Finger noch beweglich sind. »Die Frau hat also Anspruch auf den vollen Handwert, das sind 55 Prozent.« Was entscheidend ist. Bei einem Invaliditätsgrad von mehr als 50 Prozent hat man in der privaten Unfallversicherung nämlich grundsätzlich Anspruch auf eine lebenslange monatliche Unfall-Rente. Penteridis erhob deshalb Klage beim Landgericht Paderborn gegen die »offensichtlich rechtswidrige Auffassung der Versicherung«.
In wenigen Minuten hatten die Richter den Fall zugunsten der gestürzten Radfahrerin entschieden. Ina O. erhält eine zusätzliche Einmalzahlung von 90 000 sowie lebenslang eine monatliche Unfall-Rente von 1467,41 Euro. Die summiert sich bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 82 Jahren auf 422 000 Euro.
»Wahrscheinlich wollte die Aachen-Münchener diese Rente nicht leisten und ging davon aus, dass unsere Mandantin eine Klage scheut«, mutmaßt der Fachanwalt.
Jetzt muss die Versicherung auch noch die Prozesskosten von knapp 12 000 Euro übernehmen.
LG Paderborn, Az.: 2 O 276/10
Gliedertaxe
Die Gliedertaxe ist eine Tabelle, nach der in der privaten Unfallversicherung der Invaliditätsgrad bei vollständigem Verlust oder vollständiger Gebrauchsunfähigkeit bestimmter Gliedmaßen oder Sinnessorgane festgelegt wird. Beispielsweise wird für den Verlust oder die vollständige Funktionsunfähigkeit eines Armes ein Invaliditätsgrad von 70 Prozent angesetzt. Verliert man den Geschmackssinn, so hat dies einen Invaliditätsgrad von fünf Prozent zur Folge. Bei teilweisem Verlust oder teilweiser Gebrauchsunfähigkeit werden entsprechende Teilsätze anhand der Gliedertaxe ermittelt. Die Höhe der Versicherungsleistung ist vom Invaliditätsgrad abhängig. Sind als Grundsumme zum Beispiel 100 000 Euro versichert, erhält man beim Verlust eines Armes 70 000 Euro, beim Verlust des Geschmackssinns 5000 Euro.“